Der realistische Akt
Die Enttäuschung über die Maschinenästhetik nach dem Ersten Weltkrieg führte dazu, dass viele Künstler:innen in den 1920er- und 1930er-Jahren das Experimentieren mit abstrahierten menschlichen Formen aufgaben. Die Konzentration auf die realistische Darstellung wurde in Frankreich als Retour à l’ordre (Rückkehr zur Ordnung) und in Deutschland als Neue Sachlichkeit bekannt.
Für einige der realistischen Maler:innen boten individualisierte Porträts des nackten Körpers auch eine Möglichkeit, den Einfluss der freudschen Psychoanalyse zu erweitern und weiter zu zerlegen, indem sie in ihren Werken Ansichten und Gedanken der Porträtierten beleuchteten und Einblick in deren Innenwelt gaben. Anderen ging es vor dem Hintergrund des Existenzialismus eher darum, ihre Figuren durch intensive Beobachtung exakt im Raum zu verorten.
Im Realismus diente der Akt zudem als Mittel der Symbolik, um die düstere Realität des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen zu thematisieren. Die Maler:innen nutzten biblische Erzählungen über die zu ewigem Leid verdammten Diener:innen Gottes, um Werke voller politischer Botschaften zu schaffen. Diese Bilder aus der Nachkriegszeit bezeugen, dass sich der Alltag der Menschen für immer verändert hatte.
Neel war über die Ausgrenzung von Künstlerinnen ebenso frustriert wie über die feststehenden weiblichen Stereotype. In ihren Werken brach sie mit der konventionellen Darstellung makelloser Frauenkörper.
Ihr Porträt stellt Ethel Ashton als eine große, plumpe Figur dar, die zaghaft und unbeholfen wirkt. Der von Neel gewählte Blickwinkel zeigt ihr Modell seitlich der Bildmitte von oben, wodurch seine Gesichtszüge verzerrt wirken und die Erschlaffung des üppigen Fleisches besonders hervorgehoben wird. Das von rechts in das Bild einfallende, grelle weiße Licht akzentuiert die Hautfalten und unterstreicht die Fülligkeit des Körpers. Dunkle Konturlinien heben die physische Unvollkommenheit des Modells noch zusätzlich hervor. Neel zeigt hier ein neues, ungewöhnlich realistisches Bild der Weiblichkeit, die verletzlich und stark zugleich, nicht schön, aber authentisch ist.
Der in der Normandie geborene Jean Hélion war in den 1930er-Jahren ein prominenter abstrakter Künstler und Mitglied der Gruppe Abstraction-Création. Der „Akt mit Brotlaiben“ ist eines von mehreren Werken, in denen die weibliche Form gewöhnlichen, aber mysteriösen Objekten gegenübergestellt wird.
Hélion sah Parallelen zwischen dem Begehren nach dem Körper und Nahrung, eine Beschäftigung, die aus seiner Erfahrung als Kriegsgefangener hervorging. Wie seine Notizen offenbaren, interessierte ihn auch das Verhältnis zwischen Mann und Frau, hier erkennbar in den kontrastierenden Formen der Hose und des Unterrocks. Scheinbar wird die nackte Frau von einer unsichtbaren männlichen Figur beobachtet, wodurch eine erotische Spannung impliziert wird. Der achtlos abgestellte Schuh des Mannes bildet einen Kontrast zum Unterrock, dient aber auch dazu, die „Hommage an den Akt zu begründen. […] Vielleicht ist er an der Stelle des Betrachtenden auf den Knien und bewundert.“ Dargestellt wird der voyeuristische ‚männliche Blick‘ auf den weiblichen Körper.