Der verletzliche Körper
Ab den 1980er-Jahren ermutigte die Großformatfotografie zunehmend zu Aktbildern, die Verletzlichkeit und Sterblichkeit des Menschen thematisierten. Die Künstler:innen waren häufig selbst Gegenstand ihrer Bilder, und die Selbstdarstellung im Bild nahm explizit den Dialog mit dem Medium der Fotografie auf. Die zutiefst bekenntnishaften Werke von Künstler:innen wie Tracey Emin schildern mit Bild-Text-Kombinationen eigene traumatische Erlebnisse und deren emotionale Folgen.
Oftmals bleiben diese Selbstbildnisse jedoch bewusst zweideutig: Emin etwa präsentiert ihren verletzlichen nackten Körper, überlässt die Deutung der Beziehung zwischen Titel und Bild aber den Betrachtenden.
John Coplans studierte zunächst in London Malerei, übersiedelte jedoch 1959 in die USA. Zu Beginn der 1960er-Jahre wandte er sich von der Kunst ab und konzentrierte sich auf seine Tätigkeit als Schriftsteller, Kurator und Kunstkritiker. In den frühen 1980er-Jahren nahm er die aktive künstlerische Tätigkeit wieder auf und befasste sich mit dem Ausdruck universeller, ursprünglicher Gefühle, die im psychischen Unbewussten angesiedelt sind. Die Fotografie und sein eigener alternder Körper wurden zu zentralen Themen. Der Leib wird zum Gegenstand, den man im Medium der Fotografie auf eine Weise betrachten kann, wie es mit bloßem Auge nicht möglich ist. Dabei sind seine Bilder eine Hommage an den Ansatz feministischer Künstlerinnen wie Valie Export oder Carolee Schneemann, die in den 1970er-Jahren ihren eigenen Körper als kreatives Medium einsetzten.
Die 14 Fotografien von „Aufstand der Libido Teil I und Teil II“ sind Teil einer Serie, die in Zusammenarbeit mit Rosy Martin und David Roberts entstanden ist und die Welt einer Hausfrau der britischen Arbeiter:innenschicht der 1950er-Jahre aus der Perspektive einer jungen Frau der späten 1980er einfängt. Sie zeigen den Konflikt zwischen dem Stereotyp der perfekten Hausfrau und ihrer erotischen und sexuellen Freiheit sowie häuslicher Gewalt – ein Leben zwischen Pflichten, Lust und Missbrauch.
Als Rineke Dijkstra 1994 beschloss, diese drei großformatigen Porträtfotografien anzufertigen, nachdem sie die Entbindung einer Freundin miterlebt hatte, gab sie Geburtsdarstellungen damit eine völlig neue Richtung. Die drei Aufnahmen entstanden eine Stunde (Julie), einen Tag (Tecla) und eine Woche (Saskia) nach einer Niederkunft.
Dijkstra gelang es, die physische Realität dieser Frauen zu einem Zeitpunkt einzufangen, an dem sie nicht alles unter Kontrolle hatten. Zugleich strahlen alle drei eine bemerkenswerte Würde aus. Mit dem Mittel des förmlich posierten Ganzkörperporträts enthüllt Dijkstra etwas von dem, was in diesen Menschen vor sich geht: die emotionale Intensität hinter der maskenhaften Mimik und der Körperhaltung. Das mit Datum und Ort betitelte fotografische Porträt dokumentiert einen bestimmten Zeitpunkt, zu dem die Person ein bestimmtes Erlebnis hatte.