DER HISTORISCHE AKT

Im 19. Jahrhundert, als die Prostitution in der Öffentlichkeit ein viel diskutiertes Thema und im Fokus der Gesetzgebung war, wurde ausführlich über die angemessene Darstellung des weiblichen Aktes diskutiert. Während männliche Aktmodelle oft Soldaten oder Faustkämpfer waren, die sich unmittelbar an den Athleten der Antike orientieren konnten, gab es für weibliche Modelle keine vergleichbaren Kontexte. Die Moral der Modelle war ebenso umstritten wie die Schicklichkeit der Bilder, für die sie posierten. Im viktorianischen Großbritannien gab es für weibliche Akte zwei unterschiedliche Traditionen der Darstellung: Inspiriert vom Naturalismus und der Farbenpracht venezianischer Maler wie Tizian, stand der ‚englische‘ Akt im Gegensatz zum ‚klassischen‘ Akt, der sich auf den zurückhaltenden französischen Klassizismus eines Jean-Auguste-Dominique Ingres stützte.
In den 1860er-Jahren bildete sich allmählich die Kategorie des ‚klassischen‘ Akts heraus, zunächst inspiriert von französischen Maler:innen des Klassizismus wie Ingres, später auch vom aufkommenden Ästhetizismus mit seiner Bevorzugung der ‚schönen‘, abstrakten und formalen Qualitäten eines Kunstwerks gegenüber seinem Gegenstand. Im Gegensatz zu Ettys reichhaltiger Palette und energischem Pinselstrich vereinen diese Gemälde einen idealisierten Körper mit blassen Fleischtönen und einer glatten Oberfläche, die an den weißen Marmor antiker Statuen erinnert. Die Vorliebe für klassische Aktdarstellungen erfreute sich bei Künstler:innen ebenso wie bei der Kunstkritik und Kundschaft wachsender Beliebtheit. Die Verschmelzung biblischer und antiker Motive ebnete den Weg für Gemälde, die eine biblische Erzählung mit modernen Posen und Themen kombinierten.

Der Mythos von Amor und Psyche (oder Eros und Psyche) hat eine lange Historie. Die Legende entstammt den „Metamorphosen“, die der römische Dichter Lucius Apuleius im 2. Jahrhundert verfasste. Sie schildert, wie das Liebespaar allen Widrigkeiten zum Trotz zueinanderfindet. In einer der bekanntesten Szenen, die ein beliebtes Bildmotiv war, überrascht Amor die nackte Psyche im Schlaf. Alphonse Legros zeigt den Moment, in dem Amor sie entdeckt und durch eine Berührung mit seinem Pfeil aufweckt.
Obwohl die naturalistische Wiedergabe des Körpers in klassischen Kontexten am Ende des 19. Jahrhunderts durchaus erlaubt war, beleidigte die dargestellte Nacktheit von Psyche und Amor die Empfindlichkeiten der Zeitgenoss:innen. Als das Gemälde 1867 in der Royal Academy ausgestellt wurde, entrüsteten sich manche der Rezensenten vor allem über die Frauenfigur in Legros’ Bild. Sie empfanden sie als verstörend, da sie nicht dem erwarteten klassischen und idealisierten Erscheinungsbild entsprach. In ihren Augen stellte der Künstler eine „ganz gewöhnliche nackte junge Frau“ dar.

Millais’ naturalistischer Ansatz wurde mit der kontinentalen Praxis verglichen, den Akt zu idealisieren und in einen klassischen Kontext zu stellen, wie es auch von britischen Künstlern wie Frederic Leighton und Albert Moore gemacht wurde. Tatsächlich versuchte Millais, die frühviktorianische Tradition des ‚englischen‘ Aktes wiederzubeleben, die von William Etty begonnen wurde, einem Künstler, den Millais bewunderte und dessen Technik und Farbenreichtum er in diesem Gemälde nachzuahmen versuchte. Problematisch war die Ambivalenz des Motivs. Röntgenaufnahmen des Bildes zeigen, dass Kopf und Oberkörper der Frau ursprünglich dem Ritter zugewandt waren, wodurch Augenkontakt hergestellt wurde. Dies hätte die Interaktion zwischen den beiden Charakteren deutlich verändert und der Frau eine aktive Rolle gegeben. Später überarbeitete Millais das Gemälde insoweit, dass die Frau sich jetzt schamhaft abwendet.

Das Werk zählt zu den dramatischsten und kraftvollsten Bildern in Frederic Leightons spätem Schaffen. Die Szene zeigt die Auferstehung der Toten, wie sie im Buch der Offenbarung der Bibel beschrieben wird: Die Toten steigen aus Gräbern und dem Ozean auf. Ihre Haltung und ihr Inkarnat vermitteln die Stadien der Auferweckung, von der Schlaffheit und Blässe des Todes bis zur Kraft des neuen Lebens. Das Werk war ursprünglich als eines von acht Tondi mit Themen aus der Apokalypse vorgesehen, die Leighton für die Kuppel der Londoner St. Paul’s Cathedral anfertigen sollte. Nachdem die Skizzen jedoch als „unpassend für eine christliche Kirche“ verworfen worden waren, gab Henry Tate diese reduzierte Version für seine Sammlung britischer Kunst in Auftrag.