Der Intime Akt
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Aktmalerei im Wesentlichen männlichen Künstlern vorbehalten, nicht zuletzt, weil Frauen an Kunstakademien nicht zugelassen waren. Erst gegen Ende des Jahrhunderts gestatteten Schulen wie die Londoner Slade School of Fine Art und private Akademien den Studentinnen das Aktzeichnen, und von Frauen gemalte Aktbilder wurden allmählich in den Akademien ausgestellt. Die erwartete voyeuristische Begegnung zwischen Betrachter:innen und nackter Figur wird in den Aktbildern von Gwen John, einer Absolventin der Slade School, unterbrochen.
Im 20. Jahrhundert, als die individuellen Persönlichkeiten und kreativen Praktiken der Künstler:innen zunehmend in den Mittelpunkt rückten, wurden auch ihre Arbeitsräume zum Gegenstand der Darstellung. Denn während bisher der im Atelier entstandene Akt als vorbereitende Studie für andere Bildzusammenhänge gedient hatte, wurde er selbst nun zu einem überzeugenden Motiv.
Als die erste Fassung von „Der Kuss“ 1887 erstmals ausgestellt wurde, rief das Werk einen Eklat hervor. In einer Gesellschaft, in der Sexualität unterdrückt wurde, galt Rodins öffentliche Darstellung privater, leidenschaftlicher Liebe als ungehörig und obszön. Noch 1957 wurde Rodins Kuss als zu anstößig für ein Plakatmotiv aufgefasst.
Unter dem frühen Einfluss des italienischen Futurismus schuf Christopher Nevinson in den 1910er-Jahren eine Reihe dynamischer Kompositionen. Seine Themen waren das London des Maschinenzeitalters mit seinen modernen Transportmitteln und die Innenräume von Tanzlokalen. Im Ersten Weltkrieg war er einer der renommiertesten britischen Kriegsmaler und einer der ersten, der sich mit der entmenschlichenden Interaktion zwischen Mensch und Maschine auseinandersetzte. Anschließend gab er den Futurismus zugunsten einer naturalistischeren Beobachtung auf, konzentrierte sich jedoch weiterhin auf das städtische Leben.
Der nackte menschliche Körper konnte schon früh von Künstler:innen durch das Motiv der Badenden dargestellt werden, ohne moralisch verwerflich konnotiert zu sein oder mit gesellschaftlichen und sittlichen Vorschriften zu brechen. Das Sujet hat in der bildenden Kunst eine jahrhundertelange Tradition, an deren Anfang biblische und mythologische Themen stehen.
Bereits im Mittelalter setzten sich Künstler:innen in biblischen Szenen wie der ‚Susanna‘ oder ‚Bathseba im Bade‘ mit nackten Körpern auseinander. Etwas später folgten mythologische Darstellungen wie ‚Die Toilette der Venus‘ oder ‚Das Bad der Diana‘, in denen der weibliche Körper im Mittelpunkt stand. Sehr früh entstanden Werke, die trotz eingehaltener Moralvorstellungen eine überraschende physische Körperlichkeit darstellten, auch häufig durchaus voyeuristische und erotische Elemente enthielten. Das Badehaus als Ort des sozialen Austausches wurde wenig später zu einem beliebten Genremotiv, dass sich zur Auseinandersetzung mit dem menschlichen Körper in verschiedenen Posen eignete. Mit Beginn der Moderne verbreiteten sich – insbesondere von Frankreich aus – Darstellungen von Badenden in der Natur oder im privaten Innenraum. Paul Cézanne und Henri Matisse zeigten ihre Badenden an Ufern, umgeben von kleinen Waldstücken, während Edgar Degas und Pierre Bonnard Frauen beim Baden, Abtrocknen oder Kämmen im häuslichen Umfeld malten.
Mehrere frühe Gemälde Bells zeigen eine nackte oder nur teilweise bekleidete Frau. Die meisten dieser Darstellungen sind meditativ, wirken aufgrund ihrer Stimmung – weniger durch das physische Erscheinungsbild der Figur – fast wie Selbstbildnisse. Diese Darstellung zeigt im Wesentlichen einen Fußboden mit einem Badezuber und einem halbnackten weiblichen Akt; durch das Fenster erkennt man einen Teich. Die matt und wässrig wie Aquarell erscheinenden Farben verursachen eine sehr malerische Wirkung. Bell nahm diverse Änderungen an diesem Gemälde vor und verwandelte unter anderem die zunächst teilweise bekleidete Figur in einen Akt.
In der 1905 von Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Fritz Bleyl und Karl Schmidt-Rottluff in Dresden gegründeten Künstlergruppe Brücke hatte der Akt einen so hohen Stellenwert wie in kaum einer anderen Künstler:innenvereinigung. Die Mitglieder schufen zahlreiche Aktdarstellungen. Darunter auch die ‚Viertelstundenakte‘, in denen sie mit schnellem Duktus in kürzester Zeit die wichtigsten Charakteristika eines Körpers einfingen.
Mit einfachen Formen und flächigem expressiven Farbauftrag modellierten sie die Körper der Modelle, oft inspiriert von afrikanischer oder außereuropäischer Kunst und Kultur, die sie im Dresdner Völkerkundemuseum und auf Völkerschauen gesehen hatten. Diese verkörperten für sie eine einfache Formensprache und etwas Exotisches, das eine ursprüngliche Kraft innehatte. Sie pflegten ein Wunschbild, dass nicht zuletzt durch internationalen Handel und Migration nicht der Wirklichkeit entsprach. Die Darstellungsformen waren häufig geprägt vom Bild ‚unzivilisierter Menschen‘, das von der Gesellschaft als Rechtfertigung für Ausgrenzung, Rassismus und Kolonialismus genutzt wurde und heute – in einem Zeitalter von Diversität, Offenheit und Gleichheit – kritisch gesehen werden muss. Ihre Werke führen vor Augen, wie sich die Beschäftigung mit dem kolonialisierten ‚Anderen‘ auf die bildende Kunst ausgewirkt hat. Es entstand eine ganz eigene Formensprache in ihren Aktdarstellungen, bedingt durch die grundlegende Idee des Natürlichen und die Einflüsse ‚primitiver‘ Kunst. In ihren Werken wird das Ursprüngliche der Körperlichkeit betont.
Mit schwarzen Umrisslinien und in flächig aufgetragenen Ockertönen modelliert Otto Mueller in seinem Werk „Badende“ fünf stark vereinfachte nackte Körper, die sich unbeschwert im kühlen Blau eines Gewässers bewegen – sie baden, planschen oder sitzen am Uferrand. Bereits seit der Jahrhundertwende beschäftigte sich der Künstler mit der Darstellung von Akten und Badenden.
Die Badenden wurden zu einem zentralen Thema seines Œuvres, das ihn über seine künstlerische Laufbahn hinweg begleitete. In den verschiedensten Techniken versuchte er, das volle Potenzial des badenden Aktes, der Einheit von Mensch und Natur, zu durchdringen.